Freitag, 29. Juni 2012

Was ist Gestalttherapie?


(Quelle: Curriculum der Gestaltfortbildung am Gestalt-Forum Freiburg,
www.gestalt-freiburg.de)


Gestalttherapie ist ein anerkanntes und höchst effektives Verfahren, um menschliche Veränderungsprozesse zu begleiten. Ob im therapeutischen Setting oder in der Beratung, in der Supervision oder im pädagogischen Umfeld, Gestalt bietet eine reichhaltige Palette von Ansätzen und Methoden, um die prozessorientierte Begleitung von Menschen wirkungsvoll zu gestalten.

Gestalt ist darüber hinaus eine Lebensanschauung, aus deren Perspektive der Mensch und die Evolution des menschlichen Bewusstseins sinnvoll betrachtet werden kann. Gestalt bietet ein Welt- und Menschenbild an, das umfassend genug ist, um die Dynamik menschlichen Lebens zu beschreiben, ohne limitierende Kategorien dazu zu verwenden. Im Mittelpunkt der Gestalttherapie steht die Beziehung zwischen den Menschen, die sich begegnen. Grundlegend für diese Beziehung ist eine Haltung, in der es keine Hierarchie gibt, sondern Therapeut und Klient sich als gleichwerige Personen begegnen.

Gestalt lässt dem Menschen seine Einzigartigkeit und macht nicht den Versuch die Komplexität zu vereinfachen. Die Erkenntnismodelle der Gestaltpsychologie und der praxisbezogene Ansatz der Gestalttherapie würdigen das Geheimnis und die Unkontrollierbarkeit des Lebens und seiner vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten. Sie bieten eine Sichtweise, das Leben in seinem momentanen Geschehen zu vergegenwärtigen.


Aus einem gelebten Gestaltansatz entsteht ein Wirklichkeitsmodell, dessen wichtigstes Prinzip die Wandelbarkeit ist. Leben ist hier und jetzt. In diesem Moment finden herausfordernde Situationen und deren Lösungen statt. Die Vergangenheit ist nur insofern für das gegenwärtige Erleben von Bedeutung, als dass sie in den Grundüberzeugungen und Glaubenssätzen wirksam ist, die uns als Vorlage zur Konstruktion der eigenen Realität dienen. Das Leben selber ist jeden Moment frisch und neu. Wie unsere Wirklichkeit ihre unverwechselbare Gestalt annimmt und wie wir darauf Einfluss nehmen können, dass sich unsere gelebte Realität unseren Bedürfnissen und dem Fluss des Lebens anpassen kann, vermittelt der Gestaltansatz.

 

Die Anfänge

Als sich die Gestalttherapie noch in den Kinderschuhen befand, waren die Gestaltpioniere ursprünglich nicht daran interessiert, eine neue psychotherapeutische Theorie zu formulieren. In der Zeit des jungen 20. Jahrhunderts, war auf allen Ebenen des menschlichen Zusammenlebens viel in Bewegung und so wollten sie einen Therapiestil entwickeln, der die damals wichtigsten wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisse im Dienste der Praxis integrierte. Im Zentrum stand vor allem die Überzeugung, dass der Mensch mehr als eine Maschine ist, bei der man lediglich einige Ersatzteile auswechseln muss, um sie wieder funktionstüchtig zu machen. Der Organismusgedanke, der die systemische Verwobenheit aller Lebensphänomene rückte in den Vordergrund: Der Mensch wird als „Organismus in seiner Umwelt“ betrachtet, dessen Grundtendenz es ist, sich stets als Ganzheit zu organisieren (Holismus) und ein flexibles Gleichgewicht aufrecht zu erhalten (Homöostase). Die antike Weisheit „alles fließt“ wird nun aus wissenschaftlicher Sicht neu beschrieben.

Fritz Perls (1893-1970), der neben Laura Perls und Paul Goodman als Begründer der Gestalttherapie gilt, schöpfte bei seiner Entwicklung aus verschiedenen Traditionen und fügte die Elemente, die er in seinem Leben als sinnvoll und praktikabel erfahren hatte, zu einer neuen Ganzheit, zu einer völlig neuen Form von psychotherapeutischem Kontakt zusammen.
"Fritz Perls"
von Otto Dix
 
Die klassische Psychoanalyse (Freud, Harnich, Deutsch u.a.), Wilhelm Reichs Charakteranalyse, Existentialistische Philosophie (Buber, Scheler, Tillich), Gestaltpsychologie (Wertheimer, Köhler), Zen-Buddhismus, Taoismus und nicht zuletzt Perls jüdische Herkunft und seine Erfahrungen in den Weltkriegen sind der Boden, auf dem und aus dem heraus Gestalttherapie zu wachsen begann.

Gestalten vor meiner Tür - Das Spiel mit Figur und Grund

Die Gestaltpsychologie hat gezeigt, dass unsere Wahrnehmung keine 1:1-Darstellung der Welt ist. Die Informationsverarbeitung läuft als komplexer Prozess nach bestimmten Prinzipien ab, bei dem aus der Fülle der Informationen ein stimmiges Bild von der Realität konstruiert wird.. Es bildet sich für das individuelle Bewusstsein jeweils eine „sinnvolle Ganzheit“ heraus, die als „Gestalt“ bezeichnet. wird. Wie wir die Welt betrachten und was uns als wirklich erscheint, wird durch kollektive Paradigmen und individuelle Erfahrungen bestimmt. Wie dramatisch sich die Weltsicht verändern kann zeigt z. B. die Erkenntnis, dass die Erde keine Scheibe, sondern rund ist. Alle Phänomene werden nach dieser umwälzenden Einsicht in einem neuen Licht gesehen und die Weltanschauung strukturiert sich neu.

Ein Prinzip, das die Gestaltung und Konzeption unserer persönlichen Wirklichkeit beeinflusst, beschreibt die Gestaltpsychologie als „Figur-Grund-Wechsel“: „Figur“ bezeichnet das, was in unserer Aufmerksamkeit in den Vordergrund tritt. Alles übrige bildet so lange den Hintergrund, bis sich unser Fokus etwas anderem zuwendet und dies nun aus dem Hintergrund hervortritt und zur Figur wird. Was jeweils ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, hängt von vielen Faktoren ab. Vor allem ist es das jeweilige Bedürfnis, das die Art und Weise bestimmt, wie wir die Welt wahrnehmen. Mit hungrigem Magen gehe ich anders über einen Gemüsemarkt als wenn ich mich dort mit meiner Liebsten verabredet habe. Das im Vordergrund stehende Bedürfnis (Figur) bestimmt den Fokus der Wahrnehmung und ordnet die Informationen derart zu einem Gesamtbild der Wirklichkeit, dass es zu einer Befriedigung des Bedürfnisses kommen kann. Das Übrige tritt bedeutungslos in den Hintergrund (Grund).

Die Entdeckung von Perls und seinen Kollegen war das Phänomen der „unabgeschlossenen Situation“ oder „offenen Gestalt“ (unfinished business). So bezeichneten sie die Dynamik, die entsteht, wenn emotionalen bzw. psychischen Bedürfnissen nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das Übergehen von Gefühlen, bewegenden Erlebnissen oder dramatischen Situationen führt dazu, dass Lebenssituationen unabgeschlossen im Raum des Unbewussten abgelegt werden und sich auf das gegenwärtige Erleben der Realität auswirken. Wenn auch vergangen, drängen die alten Geschichten in unserem Leben nach Beendigung: Die nicht geweinten Tränen, die verschluckte Wut, die unausgedrückte Liebe stehen gleichsam Schlange vor unserer Tür und nutzen jede Gelegenheit anzuklopfen oder gar mit der Tür ins Haus zu fallen. Mit anderen Worten: Diese Situationen unserer Vergangenheit bestimmen unser Leben und rufen sich immer wieder in Erinnerung; solange, bis sie abgeschlossen sind. So wird z. B. die nicht gelebte Trauer über den Verlust eines Menschen oder die Wut über eine Verletzung solange an uns nagen, bis wir sie gefühlt und abgeschlossen haben.

Die Brille, durch die wir die Welt betrachten ist durch unsere offenen Gestalten eingefärbt. Sie sorgt dafür, dass wir unsere Realität so wahrnehmen, dass sie unserem Lebens-Drehbuch entspricht. Wir überzeugen uns also permanent selber, dass die Welt tatsächlich so ist, wie wir sie sehen. Wir haben uns in einem Leben eingerichtet, in dem alles schlüssig erscheint und seinen Platz hat – auch unser Unglück, unsere Sehnsüchte und Unzufriedenheiten. Was ist, wenn wir plötzlich entdecken, dass die Welt anders sein könnte, als sie uns erscheint? Indem wir unseren unabgeschlossenen Situationen auf die Spur kommen, erwecken wir das Potenzial zu einem neuen Leben. Gestalttherapie zeigt, dass wir uns glücklicherweise nicht auf die Reise in die Vergangenheit zu machen brachen. Wir können zuhause bleiben, und dieses Zuhause ist das Hier und Jetzt, der gegenwärtige Moment. Im Hier und Jetzt finden wir alles, ob es nun vier Wochen oder zwanzig Jahre zurückliegt.

Leben findet immer jetzt statt. Die Entwicklung von Bewusstheit (awareness) und ein lebendiges Verständnis für die Gegenwärtigkeit (das Augenfällige und an der Oberfläche Liegende) ist der erste wesentliche Schritt in Richtung auf größere Flexibilität und Stabilität. Der Dreh- und Angelpunkt der Gestalttherapie ist die Gegenwart. Präsenz im gegenwärtigen Moment richtet das Bewusstsein an seinem ursprünglichen Wesen aus und ermöglicht, dass die ursprüngliche Ganzheit wieder neu erstrahlen kann. Veränderung bedeutet in diesem Sinn, Bewusstwerdung dessen, was das leben in allen Facetten ausmacht. Wünsche und Bedürfnisse werden klar, neue Lebensstrategien zur Verwirklichung des eigenen Potenzial werden umgesetzt, überkommene Lebenskonzepte werden losgelassen oder neu formuliert und die Verantwortung für die offen gebliebenen Situationen der eigenen Lebensgeschichte wird übernommen.

Kontakt findet an der Grenze statt
Die Würdigung des Unterschiedes
Gestalttherapie bedeutet vor allem menschliche Begegnung. Die Voraussetzung dafür, dass Menschen im therapeutischen Setting ein waches Bewusstsein für sich selber entwickeln, ist ein lebendiger Kontakt*. Die direkte Begegnung mit dem Menschen, der zu uns kommt, schafft den Raum für Veränderung. Alles, wonach er sich sehnt, was er erhofft und befürchtet, was ihn hemmt und was ihn antreibt, ist in dem Moment präsent, in dem wir uns begegnen. Kontakt ist das gelebte Jetzt. Aus dem Ich und Du entsteht eine völlig neue Qualität: das Wir.

Nur dort, wo Unterschiede wahrgenommen und wertgeschätzt werden, können sich Menschen begegnen und aus dieser Begegnung volles Leben schöpfen. Die Gestalttheorie drückt das in dem Satz aus: „Kontakt findet an der Grenze* statt“. Die Funktion der persönlichen Grenze ist nicht in erster Linie Schutz oder Verteidigung. Eine Grenze bietet Berührungspunkte. Sie ermöglicht Begegnung und letztlich das Abenteuer der Liebe. Im gestalttherapeutischen Kontakt wird diese Grenze erlebt und erfahren.. Die Würdigung des Unterschieds ermöglichet die Verbindung. Individualität tritt aus der Vielfalt hervor und ermöglicht so Gemeinschaft. Wir verbringen normalerweise viel Zeit und Energie damit, den Kontakt an der Grenze nicht zuzulassen. Ängste und Befürchtungen, gespeist aus Erlebnissen der Vergangenheit, sorgen dafür, dass wir uns auf vermeintlich sicheres Terrain zurückziehen. Die Gestalttherapie richtet den Fokus auf die Mechanismen, die wir geschaffen haben, um Kontakt zu vermeiden. Wir fragen dabei nicht nach dem Warum, sondern nach dem Wie, und nutzen die kreative Energie, die in der Vermeidung* von Kontakt gebunden ist und geben ihr ein neues Wirkungsfeld.

Nicht zuletzt ist für uns die Transpersonalität des Gestaltansatzes bedeutsam. Gestalt lehrt uns, vom Individuum aus in zwei Richtungen zu schauen: nach innen in die Tiefe und nach außen in die Weite. „Innen“ finden wir das unberührte Wesen menschlichen Lebens, die Antworten auf unsere Fragen nach dem Woher und Wohin, die Quelle unserer Lebensweisheit. „Außen“ begegnet uns die Fülle der Lebensformen, die Vernetzung und das gegenseitig bedingte Entstehen aller Lebensphänomene. Beide Richtungen weisen über unsere Individualität hinaus und geben eine Ahnung von unserem Eingebettet sein in ein noch größeres Ganzes.




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