Sonntag, 5. Februar 2012

An den Grenzen der Ordnung zum Buddha werden

Ueli Steck, Speed-Kletterer und Extrembergsteiger, besteigt im Jahr 2008 die Eiger Nordwand in 2 Stunden und 47 Minuten. Natürlich ohne Sicherung. Zwei Eispickel in den Händen, Steigeisen an den Füßen. Faszinierend verrückt.

Reinhold Messner wurde einmal gefragt, warum er in risikoreichen Expeditionen die höchsten Berge der Erde besteigt. Er antworte: Weil sie da sind. Damit beantwortete er relativ unspektakulär die Frage, warum Menschen nicht nur danach trachten, ihre eigenen Grenzen zu überwinden, sondern auch allgemein gültige Wahrheiten in Frage und auf den Kopf stellen. Grenzen wollen überschritten und erweitert werden. Das ist die Antriebsfeder der Evolution. Durch diese Bewegung hin zu den Grenzen der existierenden Wirklichkeit wird die konservativen Tendenz des Lebens, sich und seine Lebensformen zu erhalten, kontinuierlich in Unruhe versetzt. Das Gleichgewicht des Lebens ist fließend. Lebendige Systeme verharren nicht oder nur für kurze Zeit in einem Zustand der Ausgeglichenheit. Das gilt für alle lebendigen Wesen ebenso wie für Körperorgane, Biosphären, Gesellschaften, Organisationsformen in Politik und Wirtschaft. Ein lebendiger Organismus muss sich verändern, er kann gar nicht anders, wenn er überleben will. Die Möglichkeit, sich zu verändern und über sich selbst hinaus zu wachsen, ist nicht nur ein Merkmal von lebendigen Systemen, sondern das eigentliche Kriterium, das den Unterschied zwischen belebt und unbelebt ausmacht. Lebendige Organismen werden dadurch definiert, dass sie offen für den Durchfluss von Energie und Information sind. Diese Offenheit können sie aber nur solange ermöglichen, wie sie sich permanent an die Gegebenheiten anpassen und mit der vermeintlichen "Mitwelt" im fließenden Einklang stehen. Verharren, Stehenbleiben, Ausruhen, Abwarten, Bedenken sind keine Kategorien des Lebens.

Der Biologie Ilya Prigogine sagt, dass Veränderung nur dann möglich ist, wenn ein Organismus an die Grenzen seiner eigenen Ordnung kommt. Auf unser Leben als Menschen, individuell und als Lebensgemeinschaft, übertragen, bedeutet das: Nur wenn wir bereit sind, die aktuellen Ordnungen, aufzugeben, sind wir in der Lage, zu überleben. Das gilt für unsere Lebensumstände, unsere Überzeugungen, Vorlieben, Pläne, aber auch für jedes Paradigma, so wissenschaftlich und überzeugend in unserem Leben daher kommt.

Alltag bedeutet in der Regel, dass Menschen sich innerhalb ihrer Begrenzungen bewegen. Aber diese Grenzen sind keine sicheren Einfriedungen, sie bestehen lediglich in der Vorstellung des Verstandes, der sich ein Leben wünscht, das sicher und vorhersehbar ist. Dass dies aber lediglich ein Wunschtraum ist, beweist die Erfahrung der Zerbrechlichkeit und Endlichkeit unserer Existenz.

Als Siddharta Gautama, der behütete Königssohn, zum ersten Mal Krankheit, Tod und Armut begegnete, spürte er gleichzeitig den unausweichlichen Drang, diese scheinbaren Lebensbedrohungen zu überwinden. Er wusste, dass er dies nicht im Luxus des väterlichen Palastes erreichen würde, sondern zog in die Welt, um alle Grenzen auszutesten, die auffinden würde. Zum Buddha wurde er, weil er keine Begrenzung akzeptierte und darin die grenzenlose Weise des Geistes wieder fand.

Ein Mensch, dessen Leben von dieser Haltung geprägt ist, hat aufgehört sich über die Widrigkeiten und Umstände seiner Welt zu beklagen. Er sieht den Berg. Und anstatt sich in seinem Wohnzimmersessel gemütlich einzurichten, beschließt er, ihn zu besteigen. Einfach nur, weil es ihn gibt.






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